Kontroverse in der schwäbischen Idylle
Im Hayinger Naturtheater kriegt das Publikum dieses Jahr nicht, was es erwartet. Darf schwäbisches Mundarttheater sowas?
Der Spiegel hat in diesem Frühjahr die erste Ausgabe seines neuen Magazins „Spiegel Classic“ an den Kiosk gebracht. Titelthema: Sehnsucht nach Sicherheit. Und ZEIT-Autor Adrian Lobe beklagt, unsere Gesellschaft opfere die Freiheit der Gedanken der Allgegenwart des Smartphones. Jetzt hat das Thema die schwäbische Provinz erreicht. In Form eines Mundarttheaterstücks.
Die Reaktionen sind ausgesprochen zwiespältig. Auch in den sozialen Netzwerken. Sie reichen von „So muss Theater sein“ und „einfach Spitze und gar nicht so weit weg von der Realität!“ bis hin zu „…dieses Jahr fand ich das Stück total daneben“ und „Das war ein Reinfall, sind nach der ersten Pause gegangen“.
Was geschieht im Sommer 2017 im idyllischen Tiefental nahe dem Städtchen Hayingen auf der schwäbischen Alb? Das junge Künstlerduo Silvie Marks und Johannes Schleker bringt seit der Spielzeit 2016 unter der Marke „marks&schleker“ die Stücke des Naturtheaters zu Papier und auf die Bühne. Und dieses Jahr provozieren sie, und mit ihnen die ganze Truppe Hayinger Laienschauspieler. Ausgerechnet jetzt, da die UNESCO im vergangenen Jahr die „regionale Vielfalt der Mundarttheater in Deutschland“ als schützenswertes Kulturerbe geadelt hat.
Ungewohnte Mischung
Doch die Hayinger sind überzeugt, dass schwäbisches Mundarttheater mehr sein kann als das, was man erwartet. Mehr als Bauernschwank. Sie verbinden schwäbische Sprache und zeitgenössische Thematik, freie Natur und eine industriell anmutende Ästhetik der dampfenden Maschinen. Genau diese ungewohnte, eigensinnige Mischung spaltet die Gemüter: Die einen sind be- die anderen entgeistert.
Mit ihrem Stück „Älles sicher?“ greifen sie die freiwillige Unterwerfung des modernen Menschen unter das Diktat der Datensammler auf. Sie thematisieren die totalitären Tendenzen, die in einem Gemeinwesen um sich greifen, in dem es zur Gewohnheit wird, die Freiheit des Einzelnen der Sicherheit aller zu opfern.
Bewundernswert ist der Mut der Hayinger Truppe, die mit unbändiger Spielfreude den unkonventionellen Weg beschreitet. Und stolz darauf ist, es nicht anderen gleichzutun – sich nicht Stücke von der Stange zu kaufen, sondern Uraufführungsstoffe zu zeigen, die extra für ihre Bühne geschrieben werden.
… und wenn´s ein Schock ist
Bloß bestehende Erwartungen bestätigen, das wollen marks&schleker und das Hayinger Ensemble definitiv nicht. Sie wollen dass der Zuschauer etwas mitnimmt – und wenn´s ein Schock ist.
Mit der Aktualität, dem gesellschaftskritischen Anspruch ihrer Stücke und der ungewöhnlichen Ästhetik ihrer Inszenierung haben sie jedenfalls eine Debatte angestoßen, die aus ihrer Sicht längst überfällig ist: Muss Kunst immer nur in der Stadt und möglichst auf Hochdeutsch stattfinden? Kann Theater auf dem Land nicht eigenständig sein, ohne gleich einen tumben Beigeschmack zu haben?
Sofern es Regeln gibt – und seien es unausgesprochene –, was Mundarttheater auf dem Land darf, dann halten sich die Hayinger dieses Jahr definitiv nicht dran. Das mag man mögen oder nicht. Sicher aber ist das schwäbischer Eigensinn par excellence.
Was hier angestoßen wurde, geht jedenfalls auf keine Kuhhaut. Um mitzureden, muss man dort gewesen sein.
